Gespräch mit Carsten Schatz

Zum nahenden Abschluss unseres Pride Month hat Susanne Buss, Vorstandsvorsitzende der Volkssolidarität Berlin, mit Carsten Schatz, Fraktionsvorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Abgeordnetenhaus von Berlin, über das Thema Diversity gesprochen.

 

Lieber Herr Schatz, ich möchte mich für die Gelegenheit bedanken, mit Ihnen als politischer Botschafter zum Thema Diversity in Austausch zu treten. Der Landesverband Berlin steht ehrlich gesagt noch am Anfang der Arbeit für queere Rechte, Sichtbarkeit und Vielfalt. Aber wir wollen den diesjährigen Pride Month als Auftakt für die Auseinandersetzung mit dem Thema nutzen. Das Gespräch mit Ihnen bildet somit ein Herzstück unserer Kampagne. Ich konnte auch bereits mit Frau Dr. Schlimper, der Landesgeschäftsführerin des Paritäters Berlin sprechen, und war nach dem Interview demütig angesichts der langen gelebten Tradition im Paritäter. Für uns ist also noch viel zu tun!

Hier ist auch entscheidend, was von dem, mit dem man sich da beschäftigt, auch im Alltag ankommt.

Da haben Sie Recht. Für uns ist erst einmal wichtig, dass wir nicht nur in diesem Pride Month aktiv das Thema bespielen, sondern auch darüber hinaus dies als kontinuierliches Thema bearbeiten. Daher freue ich mich ganz besonders, dass wir Sie, als Fraktionsvorsitzenden der Linken im Abgeordnetenhaus, als Mitglied der Volkssolidarität seit über fünf Jahren und als bekannten Queerpolitiker für unser Gespräch gewinnen konnten.

Das Thema Diversity, Vielfalt und Antidiskriminierung beschäftigt uns bei der Volkssolidarität Berlin erstmalig in diesem Umfang. Wann ist denn Ihrer Erinnerung nach dieses Thema auch auf politischer Ebene aufgekommen?

Ich beschäftige mich schon immer damit. Organisiert hat es 1990 angefangen, als ich in der damaligen PDS die “AG Lesben- und Schwulenpolitik“ mitgegründet habe. Auch über die 90er Jahre hinweg haben wir uns mit vielen verschiedenen Theorien und Themen auseinandergesetzt und sind dann relativ früh in den 90er Jahren zum Queer-Ansatz gekommen. Ich persönlich halte nichts davon, dass heutzutage alles und jedes als „queer“ bezeichnet wird, sondern für mich ist queer eine politische Praxis, im Wesentlichen von Menschen, deren sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identifizierung nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Dies muss sichtbar gemacht und politisiert werden. Dabei ist es besonders wichtig, Bündnisse in der Gesellschaft zu suchen, um eigene Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrung nicht zum Nonplusultra zu nehmen, sondern auch zu schauen, wo trifft das ebenso auf andere gesellschaftliche Gruppen zu und was kann man gemeinsam dagegen unternehmen? So lässt sich eine Gesellschaft der Vielfalt bauen!

Arbeiten Sie denn auch überparteilich mit den AGs der anderen Parteien zusammen?

Ja, das hat sich schon früh ergeben, und ist auch notwendig, wenn wir politische Durchschlagskraft erreichen wollen. Dann ist entscheidend, diese Bündnisse nicht nur mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu bauen, sondern quer durch die politischen Lager – zumindest unter den demokratischen Parteien. Das war in Berlin immer erfolgreich und ist bisher eine gute Erfahrung.

Haben Sie das Gefühl, dass Berlin weiter ist als der Rest der Bundesrepublik?

Natürlich sind wir die größte Stadt der Welt (lacht). Wir haben das Thema als Erste auf die politische Agenda gesetzt und als Querschnittsthema verstanden. Damals hieß die Initiative noch ISV „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“, mittlerweile heißt sie IGSV „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“. Dieser Maßnahmenplan ist 2009 gestartet, und zwar quer durch alle Politikbereiche. Berlin war das erste Bundesland, das solch einen Maßnahmenplan hatte. Andere Bundesländer haben dann nachgezogen. Berlin hat damals als Best Practice für Diversity-Engagement einen EU-Preis gewonnen. Auch wenn es noch etwas gedauert hat: Die jetzige Bundesregierung hat sich auf den Weg gemacht. Dabei geht es immer um rechtliche Gleichstellung, aber natürlich ist das Thema damit nicht erledigt. Dann muss aber noch die Praxis geändert werden. Nur die Gesetze rechtlich durchzusetzen, verändert noch nicht die gesellschaftlichen Werte – diese Gleichheit muss auch gelebt werden! Das erfordert eine andauernde Arbeit, die ist auch nie vorbei aus meiner Sicht. Das Aufkommen des Rechtspopulismus hat eine Nachschärfung der Debatte und deutlicheres Entgegentreten notwendig gemacht.

Was sind denn Ihre Schwerpunkte in der zweiten Legislaturperiode im Rahmen der Arbeit im Senat zur Weiterführung des Themas?

Wir haben in der letzten Legislaturperiode deutlich gelernt, dass es auf einen interdisziplinären Ansatz ankommt. Den müssen wir auch zukünftig stärker in den Fokus nehmen. Menschen mit multiplen Diskriminierungserfahrungen wie z.B. eine lesbische Migrantin erleben auf mehreren Ebenen Ausgrenzung nicht nur in der Gesellschaft, sondern teilweise auch in der eigenen Community. Teil der IGSV ist daher auch immer eine antirassistische Arbeit in den LSBTIQA+-Communities. Da verläuft ein Coming-Out manchmal anders als ein klassisches in Deutschland. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen, Unterstützung anbieten und spezielle Angebote machen, die aus diesen Communities niederschwellig erreichbar sind. Das Beste ist dabei immer, die Peers zu stärken (Anm. der Red.: Eine Peergroup ist eine soziale Gruppe mit großem Einfluss, der sich ein Individuum zugehörig fühlt).

Ich habe den Koalitionsvertrag besonders hinsichtlich der diversitätssensiblen Altenpflege mit Interesse gelesen. Die Babyboomer werden älter und somit diejenige Generation, die zum ersten Mal etwas offener leben konnte. Hier stellt sich die Pflege und Altenhilfe anders dar: Zum einen treffen hier queere ältere Menschen in Seniorenwohnheimen teilweise auf diejenigen, die sie ein Leben lang diskriminiert haben, und zum anderen gibt es auch Vorbehalte seitens des Pflegepersonals. Diese Problematik wird die Volkssolidarität Berlin jetzt angehen, unter anderem werden wir Konsultationen mit anderen paritätischen Trägern vereinbaren, die hier schon gute Erfahrungen gemacht haben. Haben Sie zu diesem Thema Empfehlungen für uns?

Die Wichtigkeit von diversitätssensibler Altenhilfe und Pflege wurden auch bereits in der ersten ISV von 2009 bis 2012 thematisiert. Die Schwulenberatung hat bereits 2013 ein Projekt aufgelegt namens „Jo weiß Bescheid“ (https://schwuleundalter.de/download/jo-weiss-bescheid/). Aber hinsichtlich Pflege möchte ich ganz stolz auch anmerken, dass meine Community durch die AIDS-Krise durchaus bereits Erfahrung hat: Als deutlich wurde, dass die klassischen Pflegestrukturen für uns nicht zugänglich sind, da die mit uns nichts zu tun haben wollen, sind viele alternative Pflegeprojekte entstanden. Hierbei ist viel Erfahrung mit interkultureller Arbeit in der Pflege gesammelt worden. Gerade beim Thema HIV kommt noch ein sozialer Aspekt hinzu, so dass Menschen mit Migrationshintergrund stärker davon betroffen sind. Auf diesen Erfahrungsschatz müssen wir stärker aufbauen. Ich würde Ihnen da voll zustimmen: Das Thema ist in den letzten Jahren noch einmal virulenter geworden und wird auch weiter an Bedeutung gewinnen, da die Generation, die seit ihrem meist frühen Coming-out immer offen gelebt haben. Die werden sich, wenn sie pflegebedürftig werden, nicht mehr „in den Schrank zurückziehen“. Sie haben dann vielmehr den Anspruch, dass sie in den Pflegeeinrichtungen und Senioreneinrichtungen erstens als diejenigen wahrgenommen werden, die sie sind, und zweitens auch angenommen und respektiert werden. Ich glaube, das wird eine große Herausforderung.

Meine Theorie ist, dass je höher der Bildungsabschluss ist, desto eher wird Diversity und Vielfalt als gesellschaftliches Thema anerkannt. Sehen Sie das ähnlich?

Nein, so würde ich es nicht sagen. Ich denke schon, dass Menschen mit beispielsweise einem pädagogischen Abschluss eher mit diesen Themen in Berührung kommen. Aber das heißt ja nichts! Die Frage ist ja, ändert sich dadurch eine innere Einstellung? Ich glaube, dass es primär um Sichtbarkeit geht: Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen mit Menschen in Kontakt kommen, die anders sind als sie. Dann macht man praktisch eigene Erfahrung, wie das ist. Dadurch kann sich was ändern. Dazu muss eine ständige Wertevermittlung stattfinden, die grundsätzlich davon ausgeht, dass alle Menschen gleichwertig sind. Diese Wertevermittlung brauchen wir immer und ständig. Auch wenn in Sonntagsreden immer davon gesprochen wird, dass „unabhängig von der Religion etc.“ alle Menschen gleichwertig sind, merken wir, dass sobald eine Frau Kopftuch trägt, wie stark die gesellschaftliche Auseinandersetzung einsetzt, wie stark auch Abwehrmechanismen sind. Und diese gesellschaftliche Auseinandersetzung müssen wir immer suchen und permanent dafür eintreten. Der erste Impuls sollte sein: Wir begegnen dem Anderen mit Respekt. Punkt. Und dann hört man dem Anderen auch erstmal zu.

Ist der Osten weniger weit beim Thema Diversität als der Westen der Republik?

Das weiß ich nicht (lacht).

Ich komme aus Sachsen und erlebe es so, dass ich dort viel mehr diskutieren muss als in Berlin. Berlin nehme ich da jetzt mal als weltoffene Insel heraus. Ich habe das Gefühl, dass es an der DDR-Sozialisation gelegen hat, dass es damals weniger Anknüpfungspunkte gab: Es existierte keine jüdische Gemeinde, auf dem Land kamen kaum sichtbare afrikanische Besucher an, Reisen waren nur eingeschränkt möglich. Auch wenn es keine Entschuldigung sein soll – liegt es ggf. ein Stück weit daran?

Also ich bin da unsicher. Meine Erfahrung ist eher die, dass es darauf ankommt, ein Stück weit diese Doppelstandards der DDR deutlich zu machen. Denn auf der einen Seite war es ein Staat, der sich sehr stark international engagiert hat und solidarisch war, indem Menschen aus Vietnam oder Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, aus Lateinamerika in der DDR ihre Ausbildung gemacht oder hier gearbeitet haben. Und auf der anderen Seite war das für die meisten Leute damit auch abgehakt. Also individuelle, persönliche Auseinandersetzung hat kaum stattgefunden und natürlich blieb das Andere immer das Andere, das Fremde blieb das Fremde. Als dann der Zusammenbruch nach der politischen Wende kam und die Leute das Gefühl hatten, uns wird hier massiv was weggenommen, dann war sofort der Impuls da, die müssen jetzt weg, denn die sind die Konkurrenten. Da merkt man, dass es vor allem eine staatliche Solidarität war, die letzten Endes die meisten Leute nicht erreicht hat. Was ich zu DDR-Zeiten oft vermisst habe, war, dass Menschen sich begegnen, dass man sich auch mal kennenlernt und anfängt, sich wertzuschätzen. Diese Erfahrung hat gefehlt und das muss man nacharbeiten. Ich merke aber in persönlichen Gesprächen, dass wenn du die Leute auf den politischen Anspruch hinlenkst, dann wirkt es bei den meisten auch.

Seit gut zwei Jahren beschäftigt uns Corona. Jetzt herrscht Krieg, dazu kommt die Inflation, wahrscheinlich droht eine Wirtschaftskrise – und wir beschäftigen uns mit dem Thema Pride. Wie gehen Sie mit Menschen um, die sagen, „Gibt es nichts Wichtigeres?“?

Was ist denn am Ende wichtig? Ich glaube, wichtig ist, dass wenn wir soziale Themen in den Blick nehmen, dass sie am Ende für alle wirksam sind. Wir machen eine gute Sozialpolitik nicht nur für Deutsche. Gute Sozialpolitik ist für alle Menschen wirksam, egal welcher Hautfarbe, sexuellen Orientierung, geschlechtlichen Identität oder Religion. Wie schaffen wir es, eine Gesellschaft zu bauen, in der die Unterstützung bei allen ankommt, die sie brauchen? Denn genau darum geht es am Ende, einen diskriminierungsfreien Zugang für alle zu schaffen. So entsteht ein starker Zusammenhalt, der alle miteinander verbindet. Da wird dann Sozialpolitik für mich auch rund, sonst ist sie etwas Exklusives, was bestimmten Menschen vorenthalten wird. Das schafft nur neue Gräben in der Gesellschaft, die nicht dazu beitragen, dass das entsteht, was wir alle wollen, nämlich ein starker Zusammenhalt, der alle miteinander verbindet. Nehmen Sie den schönen Namen unseres Verbandes „Volkssolidarität“: Er verweist nicht auf EIN Volk, sondern auf alle Leute, die hier leben.

Was wäre denn Ihr Argument mit Blick auf unsere Mitgliedschaft, warum es wichtig ist, dass wir uns damit beschäftigen?

Es ist immer gut, neue Dinge kennenzulernen, mit denen man sich so bisher nicht auseinandergesetzt hat. Wenn wir Gesellschaft als solche verstehen wollen, dann müssen wir auch in die Ecken kriechen. Das mag manchen nicht gefallen, das ist auch nicht bequem. Ich glaube aber, dass die Menschen, die einen Anspruch haben an die Gesellschaft, auch an Veränderung der Gesellschaft, die müssen das tun, sonst ist es nicht ernst gemeint.

Mit Blick auf den Mitgliederverband, vor allem hinsichtlich dessen Erneuerung und Verjüngung, können und müssen wir ein vielfältiger Verband sein. Ansonsten sind wir nicht interessant als Arbeitgeber, sind weit weg von gesellschaftlichen Entwicklungen und dann sind wir auch nicht mehr glaubwürdig. Würden Sie mir zustimmen?

Genau, und der Anspruch, den man selbst an sich erhebt, würde nicht eingelöst werden. Man muss mal deutlich sagen: Das ist nichts, was von außen auf uns zukommt, sondern wir müssen uns immer wieder unserer eigenen Ansprüche versichern, und uns fragen „Halten wir unsere Ansprüche in dieser komplexen, sich verändernden, sehr bunten Gesellschaft ein?“

Wenn wir uns in fünf Jahren wiedersehen würden, was ist da Ihre Erwartungshaltung? Was wird sich verbessert haben? Über welches Thema müssen wir dann nicht mehr sprechen? Ehe für alle ist ja Gott sei Dank seit fünf Jahren erledigt.

Was das Rechtliche angeht, hoffe ich, dass wir in fünf Jahren tatsächlich so etwas wie ein Selbstbestimmungsgesetz auf Bundesebene haben. Das würde dazu führen, dass Menschen, die ihr Geschlecht verändern wollen, weil sie für sich gefühlt im falschen Körper leben, dass auch einfach tun können und dafür die gesellschaftliche Unterstützung haben werden. So dass sie nicht so viel Ausgrenzungserfahrungen machen müssen, die ja ernsthaft für diese Menschen traumatisierend sind. Ich glaube, es ist an der Zeit, dieses Gesetz zu haben. Ansonsten würde ich mich freuen, wenn es uns gelänge, die Sachen, die wir uns vorgenommen haben, beispielsweise das Berliner Black Community Center, umzusetzen. Dass wir so mehr Punkte schaffen, wo die Vielfalt der Gesellschaft sichtbar wird und wo wir authentische Stimmen aus den Communities stärker in die Öffentlichkeit rücken. Damit sie mehr gehört werden und auch Teil der politischen Debatte sind, die wir miteinander führen. Ich wünsche mir auch, dass in fünf Jahren der organisierte Arm des Rechtspopulismus nicht mehr in diesem Parlament sitzt.

Das hoffen wir alle. – Wir sehen uns dann auf dem CSD wieder!

Ach schön! Ich stelle es mir für den Charakter des CSDs schön vor, dass auch Sozialverbände erstens Flagge zeigen und zweitens deutlich machen: In den Lebenslagen, die uns alle erwarten werden, steht ihr nicht allein da! Ich glaube, das gibt auch Sicherheit.

Wir stehen für ein soziales Berlin

Miteinander - Füreinander stärken wir kranken, einsamen und schutzbedürftigen Menschen den Rücken