Interview mit der Telefonseelsorge

Anlässlich des Welt-Suizidpräventionstags am 10.09.2022 hat unsere Vorstandsvorsitzende Susanne Buss mit Bettina Schwab vom psychosozialen Team der Telefonseelsorge Berlin e.V. gesprochen. Die Volkssolidarität Berlin möchten den Anstoß geben, über das Thema Suizidprävention in allen Altersgruppen zu sprechen. Bettina Schwab gibt als wichtigen Hinweis: „Suizidprävention bedeutet vor allem achtsam und aufmerksam zu sein und gut zuzuhören.“

Triggerwarnung: In diesem Interview geht es um Suizid. Wenn Sie sich gerade emotional nicht stabil genug fühlen, um mit diesem Thema umzugehen, lesen Sie am besten nicht/nicht allein weiter, der Inhalt könnte Sie stark belasten. Hilfe oder Unterstützung finden Sie bei der Telefonseelsorge unter 0800 / 11 10 111. Bei der Telefonseelsorge arbeiten die Menschen am Hörer nach Abschluss einer einjährigen Ausbildung ehrenamtlich.

 

Was sind die Themen und Problemen, mit denen bei der Telefonseelsorge Berlin tagtäglich angerufen wird?

Die Schwerpunkte, die am meisten angesprochen werden, spiegeln sicherlich auch die Gesellschaft wider, da diese sonst keinen Platz finden. Bei fast 30% der Anrufe ist Einsamkeit das Hauptthema. Bei diesem Themenkomplex geht es auch um familiäre und Alltagsbeziehungen, depressive Verstimmung, körperliches Befinden und Ängste. Bei der Einsamkeit ist in den letzten Jahren eine Entwicklung zu beobachten: Vor der Pandemie war das Thema vor allem von Senior:innen besetzt. Während Corona wurde es zunehmend auch ein Thema von jüngeren Menschen. Gerade in Phasen des Lockdowns oder der anfänglich großen Unsicherheit hat es sich teilweise auch auf die 20-35jährigen verlagert, für die Einsamkeit eine ganz neue Erfahrung war. Diese Altersgruppe hat bereits vorher schon bei der Telefonseelsorge angerufen, allerdings aus anderen Beweggründen.

Dabei ist aber wichtig, dass die Themen nicht ausschließlich behandelt werden, sondern sie korrelieren miteinander. In den letzten Monaten war das Thema Krieg sehr präsent, und damit einhergehend die konkrete Angst vor Krieg, die damit verbundenen steigenden Energiekosten, Zukunftsangst, sowie existenzielle Sorgen. Beispielsweise hatten wir vor ein paar Tagen eine ältere Anruferin, die erzählte, dass sie nur noch 50 Euro auf dem Konto hätte, dabei sei es erst Monatsanfang. Auf diese Entwicklung schauen wir mit Sorgen.

Wie geht man als telefonseelsorgende Person mit solchen Anrufen um?

Die Grundidee der Telefonseelsorge ist da zu sein, aktiv zuzuhören, und sich ein Stück mit zur Verfügung zu stellen, die Ängste und Sorgen nicht alleine aushalten zu müssen. Also keine Plattitüden wie „Es wird schon“, sondern vielmehr den Raum zu schenken, den sich die meisten Menschen in ihrem Alltag gar nicht nehmen oder den sie häufig in Gesprächen mit anderen Menschen nicht bekommen. Der Zuhörende nimmt sich selbst und seine eigenen Ängste und Erwartungen zurück und ist ausschließlich für die anrufende Person da. Dadurch wird ein Stück weit Entlastung erreicht, indem man merkt: Da ist jemand, der mir bewertungsfrei zuhört, das darf sein, was ich fühle, und dadurch ist es häufig schon besser aushaltbar. Diese Grundhaltung vermitteln wir auch in der Ausbildung der Ehrenamtlichen. Es geht nicht um die aktionistische Suche nach Lösungen, sondern darum, den Anrufenden Raum zu schenken. Auch Suizidprävention bedeutet vor allem achtsam und aufmerksam zu sein und gut zuzuhören.

Werden den Telefonseelsorger:innen gegenüber auch Suizidgedanken geäußert?

Ja, auch wenn die Häufigkeit im Vergleich zur Anfangsphase der Telefonseelsorge abgenommen hat. Die Telefonseelsorge Berlin e.V. wurde als erste Telefonseelsorge Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, als Berlin die „Hauptstadt der Suizide“ war. Unsere Gründer:innen wollten eine Anlaufstelle für Suizidgefährdete schaffen, die sich sonst nirgends hinwenden konnten, und so wurde es zum geflügelten Wort „Komm mit Deinem Jammer nicht zu mir, ruf´ gefälligst in der Jebenstraße an!“. Damals lag das Thema Suizid bei über 90% der Anrufe. Heute drehen sich noch etwa 12% der Anrufe um das Thema Suizidalität. Dabei kann es um die eigene latente, akute oder frühere Suizidalität gehen, die eines Angehörigen oder auch, dass jemand Zeug:in eines Suizids wurde.

Was sind denn die häufigsten Ursachen für Suizidalität?

Hierbei lässt sich nicht die eine Ursache anführen, sondern eine Reihe von Faktoren, die miteinander wirken können. Warn- oder Risikofaktoren können belastende Lebensereignisse wie Trennung, Tod oder Flucht sein sowie psychische Erkrankungen, chronische Schmerzerkrankungen oder eine suizidal belastete Familiengeschichte. Es gibt fast immer äußere Anzeichen, die auf eine Suizidalität hindeuten: z.B. sozialer Rückzug, Veränderungen der Lebensgewohnheiten, wenn sich der Lebensrhythmus deutlich verschiebt, verändertes Schlaf- oder Essverhalten oder Körperhygiene. Da es über 80% der suizidalen Menschen vorher auf die eine oder andere Weise ankündigen, ist es sinnvoll und wünschenswert, dass Angehörige oder das engere Umfeld verstärkt aufmerksam werden. Natürlich haben alle genug eigene Kämpfe und Themen im Alltag, sodass man Anzeichen oft nicht richtig wahrnimmt. Es hält uns allerdings oft auch eine Scheu ab, Betroffene direkt anzusprechen. Zudem halten sich hartnäckig falsche Mythen über Suizid wie: „Wenn ich ihn direkt drauf anspreche, bringe ich die Person erst recht auf die Idee“ oder „Solange jemand darüber redet, setzt er oder sie es nicht in die Tat um“. Da diese Annahmen nicht korrekt sind, ist es wichtig, dass man reagiert, zuhört und aufmerksam ist, sobald über Suizidalität gesprochen wird oder sich eine der genannten Veränderungen in Verbindung mit einer belastenden Lebenssituation zeigt. Wichtig ist zu bedenken, dass wir bei Suizid von einem Kontinuum sprechen, erst entsteht eine wage Idee, dann wird ein konkreter Plan entwickelt, danach erfolgt die Umsetzung.

Wie sollte man denn als Privatperson am besten reagieren?

Generell gilt: Den Verdacht wirklich direkt anzusprechen, und zwar mit klaren Worten. Also eher nicht „Denkst du darüber nach, dir das Leben zu nehmen?“, sondern ganz deutlich „Willst du dich töten? Hast du bereits einen konkreten Plan? Wo bist du auf diesem Weg? Hast du bereits Tabletten gesammelt usw.?“. Die eigene Sorge um den Menschen sollte man ebenso deutlichen Ausdruck verleihen. „Ich sorge mich um dich. Mir ist es wichtig, wie es dir geht.“ Dabei nicht zu werten, sondern nur zuzuhören ist ebenso elementar. „Hast du eine Idee, woher deine Gedanken kommen? Glaubst du, dass das so bleibt? Was kann ich tun, was brauchst du von mir?“ Also bei der Person bleiben, anregen, sich bei Hilfsangeboten anzumelden und helfen, diesen Termin zu vereinbaren und ggf. sogar die Person begleiten. Studien haben gezeigt, dass eine akute suizidale Krise circa 24 Stunden umfasst, bevor es ein bisschen besser wird. Und in dieser Zeit ist es besonders wichtig, dass die Person nicht allein gelassen wird. Aber auch nach der hochakuten Phase sollte man dranbleiben und sich nicht weismachen, dass alles wieder gut ist.

Als großer Arbeitgeber stellt sich uns die Frage: Was können wir tun, um Suizide zu verhindern und unsere Mitarbeitenden aktiv zu unterstützen?

Was Arbeitgeber tun können, geht in dieselbe Richtung wie, was die Gesellschaft, was jeder Einzelne tun kann. So schlimm sich das anhört: Suizidalität ist nicht nur eine Realität, sondern gewissermaßen eine Normalität. Jeder Mensch beschäftigt sich im Laufe seines Lebens in irgendeiner Form von sich aus mit diesem Thema oder wurde damit konfrontiert. Im Arbeitskontext geht es also darum, durch Schulungen das Bewusstsein zu schärfen und Aufklärung von Seiten des Arbeitgebers zu schaffen, auch indem man Informationen zu Hilfsangeboten gibt. Weitere Hilfsmittel können hier z.B. die Krisenkompass-App der Telefonseelsorge sein, bei der man sich sein eigenes Hilfssystem aufbauen oder finden kann. In Berlin gibt es zudem das Suizidpräventionsnetzwerk, bei dem sich über 30 Organisationen zusammengetan haben, oder die Homepage der Deutschen Gesellschaft der Suizidprävention für deutschlandweite Hilfsangebote. Aber auch auf Arbeitnehmerseite muss, beispielsweise mit Hilfe von Schulungen, ein Bewusstsein entwickelt werden, damit eine Belegschaft untereinander auf sich aufpasst und aufmerksam miteinander umgeht.

Gibt es Ihrer Erfahrung nach eine Berufs- oder Altersgruppe, die am häufigsten betroffen ist?

Suizidalität oder vollbrachter Suizid zieht sich quer durch die Gesellschaft, egal, ob arm oder reich, arbeitslos oder in Arbeit, so dass man keine bestimmte Berufsgruppe nennen könnte, die besonders vulnerabel ist. Mit zunehmendem Alter steigt aber die Suizidalität, wenn auch die Gruppe der jungen Frauen zwischen 20-25 Jahren am häufigsten Suizidversuche unternimmt. Dass dies oft nicht gelingt, liegt häufig an deren guten sozialen Netzwerken, aber es bedeutet nicht, dass die Versuche nicht ernst gemeint waren. Aber die Hauptgruppe der vollzogenen Suizide ist mit 70% Männer um die 50. Eine weitere Gruppe, die zu wenig Beachtung findet, ist die der Angehörigen. In Deutschland begehen im Jahr 10.000 Menschen Suizide – das sind mehr Tote als durch Verkehr, Gewalt und Drogen zusammen. Auf jeden „erfolgreich“ vollzogenen Suizid kommen 10-12 Versuche. Somit sind wir bei fast 100.000 Menschen pro Jahr, die versuchen, Suizid zu begehen. Auf jeden der 10.000 jährlichen Suizide kommen durchschnittlich circa 135 Personen, die dadurch betroffen sind, wie engste Familienangehörige, Freund:innen, Bekannte, Zeug:innen etc. Und hierbei handelt es sich um eine Hochrisikogruppe, die bis zu viermal mehr suizidgefährdet ist als Menschen, die keinen Kontakt mit diesem Thema hatten. Trotz dieser hohen Fallzahlen gibt es für Suizidprävention keine Lobby.

Was wünschen Sie sich demnach von der Politik?

Eine Kollegin der Beratungsstelle für suizidbetroffene Angehörige des Telefonseelsorge Berlin e.V. (BeSu), hat die Tage zu mir etwas gesagt, was zunächst seltsam klingen mag, aber sehr wahr ist: „Suizid ist eben nicht sexy. Deswegen hat das Thema keine Lobby!“ Das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) setzt sich mit vielen verschiedenen Stellen dafür ein, dass eine gesetzliche Grundlage für Suizidprävention geschaffen wird. Es ist zudem unabdingbar, dass in dieses Thema nachhaltig Geld für breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagnen investiert wird. Dieses Thema müssen wir aus der tabuisierten Ecke herausbekommen, in der einfach nicht darüber geredet wird. Denn wenn beispielsweise deutlich würde, dass auch die Nachbarfamilie dieses Schicksal erfahren hat, schafft das, wenn auch nicht Verhinderung, zumindest Entlastung. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe mit der Schule meiner Kinder telefoniert und dort angefragt, was genau sie angesichts des anstehenden Welt-Suizid-Präventionstags tun, um diese von Corona, Krieg und Klimakrise so stark betroffene Generation über dieses Thema zu informieren. Wir müssen mit dieser Generation bereits jetzt schon über das Thema sprechen, damit langfristig gesehen eine Generation heranwächst, die von Anfang an ein anderes Bewusstsein dafür entwickelt hat. Hier ist ganz klar die Politik in der Pflicht. Sie muss Geld zur Verfügung stellen, um noch mehr niedrigschwellige Beratungsangebote zu schaffen, um ansprechbar zu sein und Aufklärungsarbeit und Forschung zu betreiben.

Wer wären Ihrer Ansicht nach die Adressaten?

Die NaSPro fordert beispielsweise eine nationale Koordinierungsstelle, die die Aufklärungsarbeit systematisch in Angriff nimmt. Es gibt bereits ganz viele niedrigschwellige Angebote wie das Suizidpräventionsnetzwerk in Berlin. Aufgrund der schlechten Finanzierung und knappen personellen Besetzung gibt es allerdings kaum Kapazitäten, um effizient miteinander zu arbeiten. Wir als Telefonseelsorge Berlin e.V. werden von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung finanziert. Suizidalität ist dort jedoch nur eines von vielen wichtigen Themen, bei dem es wichtig wäre, durch eine umfassende Finanzierung eine nachhaltigere Koordination und Organisation zu ermöglichen. Wir bereiten z.B. alle viel für den Welt-Suizid-Präventionstag vor – und gefühlt bekommt es niemand mit. Hier bräuchte es große Aktionen und flächendeckende Werbung für diesen Tag.

Innerverbandlich haben wir zum Thema der begleiteten Sterbehilfe diskutiert. In diesem Themenkomplex variieren die Meinungen von „Das ist ein Suizid und wir unterstützen das auf keinen Fall“ bis hin zu „Warum lasst ihr den Menschen am Ende ihres Lebens nicht die Möglichkeit, selbst zu entscheiden?“ Wir hatten diese interne Diskussion in der Hoffnung angestoßen, eine einheitliche Volkssolidaritätsmeinung entwickeln zu können. Doch es zeigt sich, dass wir uns bei diesem emotional besetzten Thema nicht einig sind. Dass darüber diskutiert wird, ist aus unserer Sicht jedoch ein gutes Ergebnis. Haben Sie einen Rat, wie wir diese Fäden zusammenbringen können? Wo steht da die Telefonseelsorge? Werden Sie eingebunden im Gesetzgebungsverfahren?

Auch wenn bei uns intern manchmal der Eindruck entsteht, als würde die Telefonseelsorge bei der öffentlichen Diskussion manchmal noch vergessen, bringt sich unser Dachverband, der Telefonseelsorge Deutschland e.V., natürlich aktiv in die entsprechende Gremienarbeit ein. Grundlegend denken wir, dass die Verantwortung beim Anrufenden bleiben muss und nicht auf die telefonseelsorgende Person übergeht. Aber beim assistierten Suizid sollte sorgfältig abgeklärt werden, ob es sich nicht beispielsweise um eine Suizidalität im Rahmen einer Altersdepression oder eine generelle Suizidalität handelt. Und das wäre Anlass zu sagen, dass jeder Mensch bei diesem Thema ein Selbstbestimmungsrecht hat, im Sinne der Suizidprävention, mit dieser Entscheidung aber nicht alleine gelassen werden, sondern auch professionelle Unterstützung haben sollte. In der Telefonseelsorge arbeiten deutschlandweit circa 7.700 ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, hinzu kommen die hauptberuflichen Mitarbeiter:innen, die sie für ihre Tätigkeit ausbilden und dabei begleiten. Dadurch finden sich sicherlich auch in der Telefonseelsorge andere Meinungen zu Teilaspekten dieser Aussage. So ringt aktuell wohl jede Institution, die direkt und unmittelbar damit konfrontiert ist, um eine Haltung zu diesem Thema. Da sind wir noch auf dem Weg.

Wir auch. Und daher haben wir uns dazu entschieden, diesen Weg transparent zu machen. In jeder Ausgabe unserer Mitgliederzeitschrift gibt es einen Beitrag zu dem Thema, so wie jetzt auch dieses Interview. Diese Transparenz werte ich schon als Erfolg dahingehend, dass betroffene Menschen, die selbst vor der Situation stehen und noch keine Haltung dazu entwickelt haben, wissen: „Uns geht es genauso – auch wir haben noch keine Haltung in dieser schwierigen Entscheidung und setzen uns damit auseinander. Ihr seid damit nicht allein.“

Letztendlich weiß auch die Telefonseelsorge nicht, was für die Betroffenen „das Richtige“ ist. Aber wir können an dieser Stelle den betroffenen Menschen ein offenes Ohr schenken und beim „Sortieren“ ihrer Gedanken und Gefühle helfen. Das allein bringt oft schon die notwendige Entlastung, um die weiteren Schritte der Entscheidungsfindung angehen zu können.

 

Hilfsangebote

Beratung für suizidbetroffene Angehörige (BeSu), https://www.besu-berlin.de/

Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro), https://www.suizidpraevention.de/

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