Interview mit Frau Dr. Schlimper

Von Juni bis in den späten Juli hinein wird in Berlin der jährliche Pride Month begangen. Höhepunkt hierbei ist stets die Parade zum Christopher Street Day, bei der für queere Rechte demonstriert wird. Die Volkssolidarität Berlin nimmt hierbei erstmalig in konzentrierter Form und mit eigenen Aktionen an diesen besonderen Wochen teil. Die Vorstandsvorsitzende Susanne Buss nahm dies zum Anlass, um mit Dr. Gabriele Schlimper – Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Landesverband Berlin e.V. sowie Gast-Professorin an der Donau-Universität Krems – ein Interview zum Thema Vielfalt in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz zu führen.

 

Liebe Frau Dr. Schlimper, wir freuen uns, dass Sie unserer Einladung zu einem Interview zum Thema Vielfalt gefolgt sind.

Ich bedanke mich für die Einladung. Wenn ich mir die Mitgliedschaft der Volkssolidarität ansehe, ist Vielfalt eine interessante Schwerpunktsetzung. Das sage ich voller Respekt, weil die Vielfaltsfrage nicht unbedingt zur Sozialisation vieler Menschen der Generation 60plus gehört. Zumindest ist das so in der öffentlichen Wahrnehmung, wie es im Privaten ist, ist eine andere Frage.

Die Rückmeldungen, die wir bekommen, sind verschieden. Wir haben zum Beispiel Arbeitnehmer:innen, die sich als divers bezeichnen.  Für uns stellt sich also gar nicht die Frage ob, sondern wie wir damit umgehen. Das ist schließlich der Gründungsgedanke der Volkssolidarität. Wir waren immer gegen Diskriminierung, zu jeder Zeit, für alle Menschen.

Die Volkssolidarität entwickelt sich weiter und das sieht man jetzt auch in dieser Debatte, die ich sehr begrüße. Ihr sagt „Wir müssen uns den Vielfaltsthemen stellen“.  Und ihr macht es auch schon. Es geht um die Frage eines inklusiven Umgangs im weitesten Sinne. Was heißt das für uns? Für diese Menschen in unserer Mitte? Und das schlägt dann auch auf unsere Leistungsangebote durch. Ich sehe da vergleichbare Entwicklungen. Manche Dinge benötigen Diskussion, führen am Ende aber zu hervorragenden Ergebnissen. Deswegen bin ich da zuversichtlich.

Bei unseren Arbeitnehmer:innen wird das Thema mit einer gewissen Begeisterung aufgenommen. Was ist Ihre Erfahrung: Seit wann werden Diversityfragen intensiver diskutiert? Gab es ein auslösendes Moment oder war das ein eher schleichender Prozess?

Das Thema ist bei uns schon von Beginn an, seit den 70er, 80er Jahren dauerhaft präsent. Das ist schon durch unsere Mitgliedsorganisationen gegeben. Viele Organisationen, die sich mit diesen Themen beschäftigten, sind bei uns Mitglied und das seit ihrer Gründung. Auch deshalb, weil sie sich in keinem anderen Wohlfahrtsverband wiederfinden konnten. Wir haben ein eigenes Referat für queere Lebensweisen und viele Gesundheitsprojekte, die sich schwerpunktmäßig auf queere Menschen konzentrieren. Wir haben da einen historischen Vorsprung. Insofern ist das von Anfang an ein fachspezifisches Thema gewesen.

Welche Angebote hat der Paritätische Wohlfahrtsverband hierfür?

Zum Beispiel die Berliner Aids-Hilfe. Dort entstand ein mobiles Pflegeteam für HIV-Kranke in den 80ern, weil man sagte, wir holen die Leute aus dem Krankenhaus. Dann haben wir die Schwulenberatung, den Verein Rad und Tat für lesbische Frauen, in dem sich die Frauen jetzt auch mit Themen des Älterwerdens und der Pflege auseinandersetzen. Die Diskussion „Was passiert im Alter?“ war schon in den 90er und 2000er Jahren ein riesiges Thema. Da haben wir z.B. die Entstehung eines betreuten Wohnens mit Pflege für schwule Männer in der Mommsenstraße unterstützt. Die Ansätze sind schon lange da. Was noch nicht so lange da ist, ist die Normalität in der Breite. Es waren immer einzelne Organisationen, die am Anfang sehr zielgruppenorientiert waren. Aber eine breite Diskussion ist erst in der letzten Zeit auch bei uns gewachsen. Und letztlich ist Ihr Engagement als Landesverband der Volkssolidarität Berlin ein brillantes Ergebnis und ein Zeichen mit hoher Wirkkraft.

Wie hat sich die Diskussionskultur bei diesem Thema verändert?

Für viele Menschen ist das heute kein Thema mehr. Die Studierenden, mit denen ich zum Beispiel zu tun habe, diskutieren sogar noch viel intensiver, zum Beispiel über geschlechtsneutrale Vornamen. Da gibt es zum Beispiel eine wunderbare Broschüre für Kitas „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter, und Sophie heißt jetzt Ben.“ Das ist ein Handbuch, in dem es zum Beispiel um inklusives pädagogisches Handeln geht. Das haben wir 2018 rausgebracht. Am Titel erkennt man auch, dass verschiedene Vielfältigkeitsfragen miteinander bearbeitet werden.

Bringen Sie diese Themen im Rahmen Ihrer Tätigkeit als Dozentin ein?

Klar, das ergibt sich häufig von selbst. Im Rahmen von Lehre zu Unternehmensführung und Management hat die Paritätische Akademie beispielweise das Programm „Diversitymanagement – Von Generationsvielfalt bis Inklusion“. Das ist heute Standard, wenn es darum geht, neue Leitungskräfte auszubilden. Auch in unseren berufsbegleitenden Studiengängen, zum Beispiel zur sozialen Arbeit, muss es Gegenstand sein. Mir sitzt die Diversität im Seminarraum gegenüber, da kann man nicht sagen, da beschäftige ich mich nicht mit.

Mit Blick auf die Fachkräfteausbildung in der Pflege, wie sieht es beim Stichwort diversitätssensible Altenhilfe aus?

Die Auszubildenden bringen das mit. Es braucht da keine anekdotische Erläuterung mit Beispielen. Je tiefer man in den sozialen Bereich einsteigt und je qualifizierter die Ausbildung ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer hohen Offenheit. Bildung ist also der Schlüssel. Insgesamt öffnen sich alle gesellschaftlichen Bereiche.

In der Pflege wiederum sehe ich die Herausforderung mittlerweile nicht mehr so sehr beim Personal. Gleichwohl war das in den 90ern, als ich studiert habe, noch was anderes. Und auch heute kommt es noch vor, dass vielleicht jemand sagt, ich möchte aber nicht von Männern oder ich möchte nicht von Frauen gewaschen werden. Das ist auch möglich und legitim.

Die große Angst besteht aber im Umgang mit den anderen Pflegebedürftigen, mit denen man zusammenlebt. Die Angst, im Alter, wenn man sowieso schon vulnerabel ist, im Pflegeheim wieder diskriminiert zu werden, obwohl man vielleicht bereits ein schwieriges Leben hinter sich hat. Bei Biografien mit vielerlei Hürden ist das ein wichtiger Punkt. Hier muss man aktiv rangehen und Pflegekräfte befähigen, zu unterstützen. Vielleicht mit einer ähnlichen Broschüre, die wir sie für die Kitas haben. In der Organisation kann man einen Umgang entwickeln mit der Fragestellung: Wie gehen wir sensibel mit den Menschen um, die bei uns ankommen? Welche Bedürfnisse haben sie?

Man muss auch die verschiedenen Perspektiven bedenken. Mit 80 Jahren hat man eine Meinung ausgeprägt. Und jetzt sind sie hier im Pflegeheim und die Welt ist bunt. Da muss man eine Sensibilität finden und Ängste nehmen.

Muss das von unten aus der Arbeitnehmerschaft wachsen oder ist zwingend eine Ansage von oben erforderlich?

Was einem begegnet, muss man wahrnehmen. Und wenn man Entwicklungen wahrnimmt, muss man sie unterstützen. Darüber hinaus kann man auch Anreize schaffen, für diejenigen, die darüber sprechen wollen, ihre Wahrnehmungen öffentlich zu machen. Als Arbeitgeber kann man seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht fragen, in welchem Buchstaben von LSBTIQ sie sich wiederfinden. Aber ich kann sie ermutigen, sich einzubringen, wenn es darum geht, z.B. eine diversitätssensible Pflege aufzusetzen. Wie kann man älteren Menschen, die queer sind und zu uns kommen, ein Angebot machen, dass sie sich bei uns wohl fühlen? Wer hätte Lust sich daran zu beteiligen? Und dann wird man vielleicht überrascht sein, wenn die Pflegekraft mit 55, die sich ihr ganzes Leben lang nicht zu diesen Themen geäußert hat, mitmachen möchte. Da staunt man dann, dass es nicht immer die Jungen sind, die das Thema voranbringen.

Wir erleben aktuell einen schwierigen Arbeitsmarkt mit vielen neuen Herausforderungen. Wenn mir jemand sagt, wir haben jetzt dringendere Themen – was wäre Ihre Antwort?

Ich würde entgegnen: Das ist doch der Grund, warum wir das alles machen. Wir wollen attraktive Arbeitgeber sein. Und wir haben die Erfahrung gemacht, wenn wir uns diesen Themen öffnen, werden wir gerade für junge Arbeitnehmer:innen attraktiver.

Und auch mit Blick auf die Mitgliedschaft: Wir wissen doch gar nichts voneinander. Können wir sicherstellen, wenn jemand in unser Heim kommt, dass es keine Diskriminierung gibt? Wie können wir das gemeinsam gestalten? Und da braucht man gerade auch die Expertise der lebensälteren Mitgliedschaft. Und mir kann niemand erzählen, dass in seinem Umfeld keiner dabei wäre, der queer ist. Das ist nicht realistisch.

Mit Blick auf den Berliner Koalitionsvertrag, in dem zum Thema einige Punkte zu finden sind: Was denken Sie, wo wir am Ende der Legislatur stehen? Sind wir da weiter?

Ja, aber das hat nichts mit dem Koalitionsvertrag zu tun. Da bin ich nicht so gläubig. Ich habe schon die eine oder andere Legislatur hier erleben dürfen und nach spätestens zwei Jahren weiß in der Regel niemand mehr, was im Koalitionsvertrag steht. Entscheidend ist, dass soziale Projekte unterstützt werden, die Diversity in die Breite tragen. Und da sind wir mit großem Engagement dran.

Wenn beispielsweise eine große Organisation wie die Volkssolidarität sagt: „Das ist für uns ein wichtiges Thema“, dann braucht es dazu keinen Koalitionsvertrag. Sondern es ist unsere Aufgabe als demokratische Zivilgesellschaft. Dass es im Koalitionsvertrag angekommen ist, ist gut, aber die Diskussion und Veränderung muss dort stattfinden, wo wir sind: innerhalb der Gesellschaft. Man kann da alle nur ermutigen, mitzumachen. Der Paritäter unterstützt beispielsweise die Initiative: Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt (ISGV). Wir haben ein Referat für Queere Lebensweisen und klären über queere Bildung auf.

Wie können noch mehr Bewusstsein und Akzeptanz für das Thema Vielfalt in der Gesellschaft geschaffen werden?

Insbesondere schulische Bildung ist für die Zukunft wichtig. Normalität schaffen, weg von den Säulen, hin in die Breite.  Ressentiments haben immer etwas mit Befürchtung zu tun. Sobald ich die Menschen kenne, geht das weg. Bei den Geflüchteten war das ähnlich. Erst gab es Proteste und als die Leute da waren, hat die Nachbarschaft geholfen. Es steckt in uns drin, dass wir uns von was uns fremd erscheint, erstmal distanzieren. Berührungspunkte zu schaffen ist der Schlüssel. Diversität muss man nicht einführen, sondern wahrnehmen. Sie begegnet uns täglich bei unseren Mitgliedern, Klient:innen und Mitarbeiter:innen. Meine Erfahrung zeigt: Je authentischer die zwischenmenschlichen Begegnungen sind, desto schneller bauen sich Vorurteile ab. Die Volkssolidarität Berlin kann durch ihre Größe und ihre Verankerung in der Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zu einer offenen und toleranten Stadtgesellschaft leisten, indem sie Raum für genau diese Begegnungen schafft. Ich begrüße es deshalb sehr, dass Sie sich im Pride-Month konzentriert damit befassen, ein vielfältiger Lebens- und Arbeitsort für alle Menschen zu sein.

Liebe Frau Dr. Schlimper, herzlichen Dank!

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