Geschichten aus dem Hospizdienst

Jeden Monat berichten Ehrenamtliche für Ehrenamtliche über ihre Begleitungen in einem Newsletter des Ambulanten Hospizdienstes. Dieser entstand in der Corona Pandemie, als ein Austausch über die Begleitungen in persönlichen Treffen nicht möglich war. Es ist der essenzielle Kern der Arbeit, dicht bei den Menschen zu sein, ihnen damit Halt und Vertrauen, Sicherheit und Verlässlichkeit zu geben. Hospizarbeit lebt durch Nähe und Berührung. Mit dem Newsletter versucht der Hospizdienst, diese Nähe zu vermitteln. Da er gut ankam, hat das Team ihn beibehalten. Inzwischen ist eine Sammlung von Geschichten entstanden, von denen hier eine kleine Auswahl zusammengestellt ist.

Jeden Monat veröffentlichten wir eine weitere Geschichte aus dem Ehrenamt als Audiodatei und Text. Darin wird von aktuellen Erlebnissen in den Begleitungen berichtet. Mal traurig und nachdenklich, mal fröhlich und lustig – wie das Leben eben auch.

Wenn Sie Interesse an der ehrenamtlichen Mitarbeit haben, dann melden Sie sich gern bei unserem Ambulanten Hospizteam.

Was kann ich tun?

veröffentlicht November 2025
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Frau T., 83 Jahre alt. Lungentumor, Metastasen. Lebt allein, hat aber Sohn und Enkelin in Berlin. Und will nicht sterben. So viel steht fest. Alles andere aber ist ein ewiges Hin-und-her, und eine Beschreibung meiner Begleitung ist so kompliziert wie Frau T. es ist.

Ich könnte jetzt eine lange Liste von Gegensätzen folgen lassen. Von Misstrauen gegen alles und jeden (besonders Ärzte) – und Herzlichkeit und Vertrauen, die sie mir entgegenbringt, obwohl wir uns ja noch nicht lange kennen. Von dem Wunsch nach Kontakten und Unternehmungen – und der Beschwerde über Besuche und Einladungen. Vom Traum Kurzreisen mit dem Sohn oder Freunden zu machen – und alles abzulehnen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Von Schwäche und Hilflosigkeit, auf die Rücksicht genommen werden soll – und zumindest passivem Widerstand, wenn jemand wirklich helfen will.

Ach…. Ich mag Frau T. Was kann ich tun? Wir telefonieren regelmäßig in der Woche, mindestens eine Stunde. Und ich höre einfach zu. Und ja, ich „rede ihr nach dem Munde“ soweit ich es kann, ohne zu lügen. Ich bin einfach da.

Ein Brief

veröffentlicht Oktober 2025
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Lieber Herr U.,

ich weiß nicht genau, inwiefern Sie mich und meine Besuche seit Jahresbeginn bewusst wahrgenommen haben. Die ersten drei, vier Mal haben Sie verschlafen – mal ganz still und ruhig, mal saß ich staunend neben Ihnen und habe zugehört, wie sie einen Schnarch-Lautstärkerekord nach dem anderen aufgestellt haben. Respekt!

Anfangs habe ich im Radio den Klassiksender angestellt und Ihre Hand gehalten. Es war ungewohnt für mich, eine fremde Person zu berühren, aber das ging schnell vorbei. Zu den Folgebesuchen waren Sie meistens wach, aber doch weit weg in alltäglichen, sowie surrealen Szenarien, mal auf der Arbeit, so vermute ich, mal brannte ein Haus, dass niemand löschen wollte. Sie waren ganz aufgeregt, wegen des Feuers und dass niemand etwas unternahm. Mit Worten konnte ich Sie nicht beruhigen, ich bot Ihnen Wasser an und kam mir albern dabei vor – sie tranken und tranken, und dann war alles gut und das brennende Haus offensichtlich gelöscht.

Sie erzählten viel, von dem ich mal mehr mal weniger viel verstand, was nicht schlimm war – ich hörte trotzdem gerne zu. Manchmal waren Sie im Hier und Jetzt, blickten mich mit wachen Augen an, erzählten, schliefen ein, wachten wieder auf, erzählten. Jeder Besuch unterschied sich vom anderen. Einmal gaben Sie mir einen Handkuss, lächelten mich an und schienen einen kurzen Moment lang eher meine Hand zu halten als umgekehrt – das hatte etwas tröstendes.

„Ich kann noch richtig denken.“

„Ja, ich weiß…“

„Ich habe Angst…“

„Aber Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben Herr U..“

„Nee? Na dann ist ja gut.“

Auch wenn Sie sich oft in einem Dazwischen befanden, wussten Sie genau was Sie wollten und was nicht. Sie sagten, wenn Sie nicht berührt werden, und auch wenn Sie lieber allein sein wollten. Ihre Aussprache war dann klar und deutlich.

Aus unserer Zeit, lieber Herr U., nehme ich mit, dass man zuhören und erzählen kann, auch wenn nichts hör-, oder verstehbar gesagt wird, ich habe gelernt winzige Gesten und Körperspannungen wahrzunehmen, auch wenn die Muskelkraft nur noch sehr limitiert vorhanden ist, dass minimale Gesten manchmal ausreichen.

Nächste Woche besuche ich Sie ein letztes Mal – ich bin mir sicher, dass wir uns viel zu erzählen haben, ob mit Worten, oder ohne.

Danke, Ihre M.

Eine Sitzwache mit einem unerwarteten Ende

veröffentlicht August 2025
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Es sollte eine Sitzwache werden, wie es sie bestimmt bereits zahlreich gegeben hat. Doch für mich endete diese mit einem sehr nachdenklichen Eindruck.

Frau S. war in den letzten Tagen vor meinem Besuch sehr unruhig, stieg gelegentlich unvermittelt aus ihrem Bett, obwohl ihre schwere Krankheit dieses an sich nicht zugelassen hatte, so schwach und gebrechlich wirkte sie, sehr abgemagert und ihre Atmung bestand größtenteils aus schwerem Röcheln.

Bei meinem Eintreffen stellte mich der Pfleger vor und erklärte ihr, dass ich nunmehr einige Zeit in ihrem Zimmer bleiben werde. Falls sie etwas wünsche, könne sie gerne mich ansprechen oder mir Zeichen geben. Es erfolgte von ihr so gut wie keine Reaktion. Ihr Körper lag schwach im Bett, die Augen geschlossen, der Mund nur geöffnet, um röchelnd schwer Luft einzuatmen. Es war nicht ersichtlich, dass sie diese kurze Vorstellung überhaupt wahrgenommen hatte.

Der Pfleger führte noch einige Kontrolluntersuchungen durch, dabei fand zwischen ihm und mir eine leise, angemessene Unterhaltung über meine Betreuung statt. Frau S. regte sich kaum und reagierte kaum merklich auf die Überprüfungen.

Obgleich eine Kommunikation mit Frau S. nicht möglich war, verging die Zeit sehr schnell für mich und ich verlor auch das Zeitgefühl. Sie öffnete ganz selten die Augen und starrte plötzlich ins Zimmer, es schien, als wenn sie durch mich hindurchschaute. Nach ca. 2 ½ Stunden stand ich auf, um den Pfleger auf der Station auf das Ende meines Besuchs hinzuweisen. In diesem Moment öffnete Frau S. plötzlich die Augen und deutete an, dass ich näher zu ihr kommen solle. Nun nah an ihrem Bett flüsterte sie mehr als sie sprach, es war kaum zu hören: „Ich bedanke mich für Ihren Besuch. Die 2 Stunden sind schon vorbei, ja? Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend“.

Wenn ich nicht gewusst hätte, dass niemand sonst im Zimmer gewesen war, hätte ich vermutet, dass die Worte von irgendwoher gekommen wären, nur nicht von Frau S.

Ich musste mehrmals schlucken, hielt den Atem an und verließ das Zimmer mit einer Verabschiedung. Da waren die Augen von Frau S. wieder geschlossen und es erfolgte keine Reaktion.

Sie ist in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages verstorben.

Lieber Herr H.

veröffentlicht Juli 2025
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Lieber Herr H.,

heute schreibe ich Ihnen einen Liebesbrief.

Ich kenne Sie erst wenige Wochen und wurde zu Beginn der Begleitung sogar gewarnt. Sie seien nicht ganz einfach im Umgang, würden Ihre Frau anschreien, überhaupt sei die Kommunikation eher schwierig.

Ja, ja und ja, stimmt. Aber in Ihnen steckt ein äußerst liebenswürdiger und humorvoller Kern und als ich es geschafft habe, zu dem durchzudringen und Ihnen immer öfter ein breites Lächeln zu entlocken, war ich glücklich.

Wenn ich ankomme, stehen Sie schon in den Startlöchern für einen Spaziergang mit dem Rollator, Sie lieben die Natur, besonders Vögel.  Allerdings muss erst Kaffee getrunken werden, das ist Ihrer Frau wichtig und ich kann spüren, wie Sie unter der Verzögerung leiden. Dann ziehen wir los. Eine Zitterpartie für mich, weil ich nie sicher bin, ob wir es nach Hause schaffen. Alle paar Schritte müssen Sie sich ausruhen. Sie haben Schmerzen.

Aber mit Krankheit, Sterben, Abschied darf man Ihnen nicht kommen. Da legen Sie schnell mit verschwörerischem Blick den Zeigefinger auf die Lippen.

Und doch kommt genau das auf Sie zu. Den ersten Hospizplatz hat Ihre Frau, obwohl sie mit Mitte 80 am Ende ihrer Kräfte ist, abgelehnt. Sie hat es nicht übers Herz gebracht, Sie „wegzuschicken“ – denn so werden Sie es empfinden.

Ach, lieber Herr H., ich werde Sie auch im Hospiz begleiten und Sie werden sehen, wie schön es dort sein kann. Und, obwohl Sie nicht religiös sind, möchte ich Ihnen einen Satz mitgeben, für mich der schönste Satz in der Bibel: Fürchte dich nicht!

Bis zum nächsten Dienstag

Ihre A.

Wer ist Ludwig G.?

von Anke Erdmann, veröffentlicht Juni 2025
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Wer ist Ludwig G.? Ich besuche Ludwig G. seit 6 Monaten im Pflegeheim „Alfred Jung“. Herr G. ist 90 Jahre alt und ans Bett gefesselt. Das Sprechen fällt ihm schwer und er kennt seine Biografie kaum noch. Seine Tochter heißt Christiane und seine Katze hieß Minka. Er war einst Maschinenschlosser und fuhr mit einem blauen Trabant zur Arbeit. Wenn ich an diese spärlichen Informationen anknüpfen möchte und weiterfrage, bekomme ich ein barsches „Das weiß ich nicht!!!!!“ zu hören. Bald gebe ich es auf nachzuhaken, denn ich möchte Herrn G. ja nicht verärgern, im Gegenteil.

Je länger ich Herrn G. besuche, umso öfter treffe ich ihn schlafend an und bringe es nicht übers Herz, ihn zu wecken. So sitze ich neben seinem Bett, sehe den schlafenden Mann und lasse meinen Gedanken freien Lauf.

Wer ist Ludwig G.? Wie hat er gelebt? War er zufrieden mit sich und den Seinen? Was hat er in seinem Leben vermisst, welche Taten bedauert? Hat er großes Glück kennengelernt?

Ludwig – bei dem Namen denke ich zuerst an die bayrischen Könige. Herr G. wird doch nicht in Seppelhosen groß geworden sein? Nein, das glaube ich nicht. Ohne es begründen zu können, bin ich mir sicher, dass Herr G. ein Ossi ist wie ich.

Er kam 1934 zur Welt – im gleichen Jahr wie mein Vater. Musste Herr G. wie mein Vater mit Mutter und Geschwistern 1945 aus dem Osten fliehen? Hat er die kriegerischen Zusammenhänge begriffen? Welche Grauen musste er mit ansehen oder am eigenen Leib erleben? Hatte er Angst? Oder hat er die Flucht als Abenteuer empfunden?

Oder ist er ein waschechter Berliner und hat nie woanders gelebt? Ist er in einem Hinterhaus in Friedrichshain oder Wedding aufgewachsen? Roch es im Treppenhaus nach nasser Wäsche, Kohl und menschlichen Ausdünstungen? Hat er darüber nachgedacht oder die Dinge hingenommen? Wovon hat er als Kind geträumt? Wünschte er sich einen Fußball, ein Fahrrad, Bücher? Oder war sein größter Wunsch, die Liebe seiner Eltern zu spüren?

Mit einem goldenen Löffel kam er sicher nicht zur Welt. Aber kann ich da sicher sein? Nein. Welchen Berufswunsch hatte Herr G. als Kind? Wollte er in einer Fabrik arbeiten oder wäre er lieber selbstständiger Händler oder Handwerker geworden? Oder berühmt? War Herr G. Mitglied in einem Kollektiv der sozialistischen Arbeit? Hat er darüber Witze gemacht, aber sonst geschwiegen? Haben ihm die obligatorischen jährlichen Theaterbesuche gefallen oder waren eher die Grill- und Bierabende sein Ding?

Hatte er eine Stammkneipe? Wieviel Zeit hat er dort verbracht? Hat er geraucht? War Sport das große Thema? Wurde politisiert oder lieber der Mund gehalten? Fuhr er nach der Arbeit mit seinem Trabi stracks nach Hause? Hatte er ein Hobby? Meine Frage nach einem Garten hat er immerhin bejaht, und er klang so, als hätte er diesen geliebt. Und seine Frau? Er erwähnt sie nie. Gegeben hat es sie sicher, ich kann mir Herrn G. nicht als alleinerziehenden Vater vorstellen. War die Ehe das, was man so landläufig glücklich nennt? Hatten sich die Eheleute viel zu sagen? Waren sie sich treu?

Einmal traf ich Herrn G. beim Onanieren an. Mir war das sehr unangenehm. Es ist ein Unterschied zu wissen, dass der Sexualtrieb der stärkste Trieb des Menschen überhaupt ist oder unvermittelt einen 90jährigen beim Ausleben dieses Triebs „zu erwischen“. Hat Herr G. in seiner Ehe die beglückende Erfahrung gemacht, seine Frau glücklich gemacht zu haben? Und von ihr geliebt zu werden?

Oder war er der Meinung, als Mann habe er das Recht, die Frau…. War Herr G. ein guter Vater? Männer seiner Generation und auch noch nachfolgende sahen sich meines Wissens als Versorger von Frau und Kindern. Väterliche Mitwirkung an der Kinderziehung war bis Anfang der 70er oder 80er Jahre bekanntlich eher Ausnahme als Regel und so glaube ich nicht, dass Herr G. mit seiner Tochter jemals im Buddelkasten saß, ihr vorgelesen oder Kinderkleidung gekauft hat. Ahnte oder ahnt er in ruhigen Momenten, dass ihm da leider viel entgangen ist?

Seine Tochter besucht ihn oft und bringt Blumen, Obst und Süßigkeiten mit. Über Schokolade freut sich Herr G. immer sehr. Wer ist Ludwig G. heute? Ein alter und hilfsbedürftiger Mensch, der sich freut, mich zu sehen, und dankbar für meine Besuche ist. Das ist schön.

Kurz, aber (nicht immer) schmerzlos

von Bernd Stöckmann (Ehrenamtlicher seit 2024), veröffentlicht Mai 2025
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Kurz war die Begleitung mit Monika. Ich hatte sie erst ein paar Tage vor ihrem Tod auf der Palliativstation aufgesucht und kennengelernt.

Sie war schon recht schwach, hatte aber trotz ihrer Atemnot ein unbändiges Redebedürfnis und war als ehemalige Polizistin immer noch neugierig auf das Geschehen in dieser Stadt und genoss es, mit mir, als ehemaligem Kriminalbeamten, zu fachsimpeln.

Sie amüsierte sich sehr darüber, Fachausdrücke und Abkürzungen zu verwenden, die sie nicht erläutern musste, zumal ich noch einige andere fachliche Ausdrücke hinzufügen konnte. Somit verfielen wir gelegentlich in eine kryptische Sprache.

Ich weiß heute gar nicht mehr, wer an wen mehr Fragen richtete und gespannt auf die Antworten wartete. Zuletzt habe ich wohl mehr und ausgiebiger geantwortet, da Monika immer kurzatmiger wurde.

Schmerzlos oder zumindest mühelos kamen ihr die Antworten nicht über die fast atemlosen Lippen. Dank ihres starken Interesses und der positiven Neugierde konnte sie vorübergehend ihre gesundheitliche Einschränkung vergessen.

Durch ihren Umzug ins Hospiz war ein Anschlussbesuch unmittelbar danach nicht möglich. Hinzu kam noch ein Sturz, der sie zusätzlich einschränkte. Ein weiterer Besuch wurde dennoch vereinbart. Sie rief mich dazu an und flüsterte mehr als sie reden konnte, dass sie gerne unsere Unterhaltung fortsetzen wolle.

Als ich einen Tag später bereits vor ihrer Zimmertür stand, sagte sie den Besuch plötzlich ab, da sie sich nicht genug auf unser Gespräch konzentrieren könne. Den Humor hatte sie auch in dieser Situation behalten. Durch die geöffnete Zimmertür und durch das Pflegepersonal erklärte sie: Anstarren müssen wir uns nicht, wir haben doch in unserem Beruf gelernt, uns auszutauschen, ist doch kein Stummfilm.

Auch der Humor kann halt gelegentlich für eine kurze Zeit den Schmerz einkapseln.

Es ist nicht immer die Dauer einer Verbindung, die nachwirkt. Ihre Intensität und Verbundenheit können genauso kraftvoll sein.

Wir sehen uns irgendwann in einer anderen Welt wieder und setzen unsere Unterhaltung fort, Monika!

Astrid

veröffentlicht März 2025
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Meine Begleitung mit Astrid war herzerwärmend und gleich freundschaftlich, obwohl ich das immer vermeiden wollte. Astrid wurde 76 Jahre alt und hatte diversen Krebs. Sie bekam oft sehr schlecht Luft, freute sich aber immer über mein Kommen und unsere Gespräche. Sie wurde lange therapiert und suchte ein stationäres Hospiz in ihrem geliebten Zehlendorf. Astrid hatte keine Familie oder soziale Kontakte. Es gab nur einen guten Freund, der sie aber letztendlich betrogen und ausgenutzt hat.

Das Leben wurde ihr unerträglich. Sechs Jahre verbrachte sie in völliger Einsamkeit, zurückgezogen in ihrer Häuslichkeit. Astrid betete als gläubige katholische Christin zu ihrem Gott und bat ihn, “ hol mich hier raus, ich ertrage das Leben in Einsamkeit nicht mehr. “ Als der Krebs dann kam, ruderte sie zurück und bat “ den da oben „, so Astrid, “ nee, nee, so schnell war das aber nicht gemeint. Der ließ aber nicht mit sich verhandeln. “

Darüber mussten wir beide lachen. Auf mich machte Astrid nicht den Eindruck einer todkranken Frau. Sie hat geholfen, wo sie konnte, erzählte mir eine Nachbarin. “ Krank wie sie war, hätte ich nachts geklingelt und um Hilfe gebeten, sie wäre sofort für mich dagewesen.“ Sie war ein ganz besonderer Mensch.

Bei meinem ersten Besuch auf der Palliativstation (Station 9) in der DRK Klinik Berlin Mitte stellten wir viele Gemeinsamkeiten fest. Wir sind beide in Berlin Lichterfelde groß geworden, sind sogar in dieselbe Grundschule gegangen. Astrid war sieben Jahre älter, deshalb sind wir uns dort nie begegnet. Unser Kennenlernen wurde begleitet von vielen Lachern und einer besonderen Herzlichkeit. Vielleicht war uns beiden schnell klar, viel Zeit würde uns nicht bleiben.

Sie erzählte mir, dass sie sich eine Baumbestattung wünscht, was aus ihrer finanziellen Sicht aber nicht möglich sei. Außerdem, so meinte sie, werde sie wohl mal irgendwo ganz alleine ohne Trauergemeinde verscharrt. Diesen Trauerzahn habe ich ihr gleich wieder gezogen, “ da kannst Du aber sicher sein, ich werde auf jeden Fall dabei sein und bringe auch noch ein paar Freunde mit „. Mut habe ich ihr auch gemacht, indem ich ihr Möglichkeiten aufgezeigt habe, wie sie sich ihren Baumbestattungswunsch erfüllen könnte. Bei meinen Vorschlägen zu den Baumbestattern interessierte sie besonders Eric Wrede von lebensnah. Sie wollte Eric kennenlernen und bat mich, einen Termin mit ihm zu vereinbaren, bei dem ich dabei sein sollte. Den vereinbarten Termin musste ich wieder känzeln, da sie überraschend die Möglichkeit bekam, an diesem Tag ins Wunsch Hospiz nach Zehlendorf zu wechseln. Da ich eine Seminarwoche außerhalb Berlins wahrnehmen musste, verabredete Eric Wrede einen neuen Termin ohne mich.

Ich hatte dann nur noch telefonischen Kontakt zu Astrid. Auf meine Frage, wie es ihr im Hospiz gefällt, brach es aus ihr heraus, sie sei ganz traurig, sagte sie. Das Hospiz am Wannsee sei geschlossen, es werde gerade für lange Zeit restauriert. Sie sei nun in einer Zweigstelle in der Stadt untergekommen, wo es ihr, der Naturverbundenen, gar nicht gefällt. “ Christiane, ich weiß genau, wenn Du dabei gewesen wärst, Du hättest mich hier nicht einziehen lassen“, meinte sie. Meine Worte, dass ich gemeinsam mit ihr überlege, wie wir das Problem nach meiner Rückkehr angehen können, machten ihr wieder Mut.

Am nächsten Tag rief mich Alice an und teilte mir mit, dass Astrid verstorben sei. Ich war fassungslos. Es war doch anders verabredet. Sie konnte doch nicht einfach gehen, wir hatten noch so viel vor! Alice bat mich, im Hospiz in Zehlendorf anzurufen, denn dort war ich als einzige Kontaktperson hinterlegt. Ein ungehaltener Hospizmitarbeiter fragte mich bei meinem Anruf, warum ich mich erst jetzt melde. Man hätte Astrid hergerichtet und auf mein Kommen gewartet. Auch darauf, welches Bestattungsunternehmen beauftragt werden sollte. Ich erklärte dem Mann, dass ich nicht in Berlin bin und Eric Wrede für diesen Tag einen Termin mit Astrid vereinbart hatte. Der Hospizmitarbeiter sagte, der Leichnam muss in die Kühlung, man könne nicht länger warten, und er werde ein Beerdigungsinstitut für eine Sozialbestattung beauftragen. Auf meine Bitte, kurz mit Eric Wrede Rücksprache nehmen zu dürfen, gewährte er mir wenige Minuten.

Einer der Glücksfälle, was Eric Wrede betrifft, ich bekam ihn sofort ans Telefon. Auf meinen Bericht, dass Astrid sich so sehr eine Baumbestattung gewünscht hat. Dass sie nun eine Sozialbestattung bekommen soll, weil ich mich gerade nicht um sie kümmern kann, da ich nicht in Berlin bin, veranlasste ihn, Verantwortung zu übernehmen. “ Ich fahre jetzt nach Zehlendorf und hole den Leichnam ab! “ Meinen Einwand, dass Astrid mittellos ist und lebensnah die Kosten für eine Bestattung ggf. nicht voll erstattet bekommen wird, beeindruckte ihn nicht. „Wissen Sie was, Frau Worm, über Kosten reden wir jetzt gar nicht, das machen wir, wenn Sie wieder in Berlin sind. Eins verspreche ich Ihnen, wir werden einen Weg finden. “ Voller Dankbarkeit für diesen Mann und sein Tun habe ich Astrid zugezwinkert und “ siehste! “ geflüstert.

Gemeinsam mit Eric Wrede haben wir Überlegungen angestellt, wie wir eine würdevolle Beerdigung für die mittellose Astrid hinbekommen. So richtig passte erstmal nichts. Aber dann, ein Geistesblitz, sprach er von der Reerdigung. Davon hatte ich im Seminar zur Hospiz Vorbereitung gehört. Die Reerdigung ist eine alternative Bestattungsform. Der tote Körper wird in einem sargähnlichen Kokon auf pflanzliche Materialien (Grünschnitt und Stroh) gebettet. Durch die körpereigenen Mikroorganismen und den pflanzlichen Materialien wird der Körper innerhalb von 40 Tagen zu Erde. Diese Methode, die in ähnlicher Form in den USA als »Terramation«, »Natural Organic Reduction« oder als »Human-Kompostierung« bekannt ist, ist eine neue Alternative zu den herkömmlichen Bestattungsarten und ermöglicht es, nach dem Tod wieder Teil des natürlichen Kreislaufs zu werden.

Dazu habe ich einen schriftlichen Auftrag an lebensnah erteilt. Eric war es wichtig, dass dieser Auftrag einen Passus enthält, wonach ich nicht zur Kostenübernahme verpflichtet bin. Sollte ich keine Geldgeber durch Befragung der Nachbarn finden, würde eine Stiftung die Kosten übernehmen, so sagte Eric Wrede mir das. Er hat Astrids Wunsch zur Baumbestattung und damit auch mich ganz wunderbar unterstützt. Am 18.09.24 wurde Astrid für die Reerdigung in den Kokon auf Stroh und Blumen gebettet. Dazu fand eine Zeremonie auf dem Domfriedhof in der Liesenstraße statt, die durch einen katholischen Pfarrer begleitet wurde. Astrid hätte die Anwesenheit des Pfarrers sehr gefreut. Der Duft des frischen Strohs und der Blumen in der Kapelle war so passend und tröstlich für die naturverbundene Astrid, dadurch war ich ihr nochmal ganz nahe. Es war auch ganz wunderbar, dass Astrid durch diese besondere Form der Bestattung zum Mittelpunkt wurde, das hätte ihr gefallen. Auch, dass viele Menschen dieser Zeremonie beiwohnten, und dass sie es damit in einen Bericht des RBB “ Mein Tag “ geschafft hatte.

Wie oft sagte sie in unseren Gesprächen, “ niemand interessiert sich für mich.“ Astrid musste in ihrem Kokon nach Schleswig-Holstein überführt werden, weil dieser Prozess in Berlin nicht durchgeführt werden darf. Nach deutlich mehr als 40 Tagen musste Astrid am 29.01.25 beigesetzt werden. Da sich die Berliner Politik nicht bewegt und dem zunehmenden Wunsch einer Reerdigung nicht nachkommt, fand Eric Wrede einen kleinen Friedhof in Mecklenburg-Vorpommern, der die Möglichkeit bietet Astrids Erde beizusetzen. Es wurde keine Baumbestattung. Ihre Erde liegt unter einem Baum mit Blick auf einen See. Eine Schule grenzt an den Friedhof. In den Pausen, so erzählte mir Wiebke Hollersen von der Berliner Zeitung, hört man das Lachen und die Stimmen der Kinder.

“ Endlich Leben in der Bude „, so würde Astrid sagen. Sie hatte sich so sehr Kontakte und Gemeinschaft gewünscht. Ich selbst konnte bei der Beisetzung nicht dabei sein.

In Gedanken war ich bei ihr, mit Ludwig Hirsch – Komm großer schwarzer Vogel https://youtu.be/NaiWa7QbRsU?si=2BqylOw-fb49Be3N

Bitte vergesst mich nicht!

Liebe Astrid, nun erscheinst Du auch in unserem Newsletter.

 

Ein letzter Gruß von Christiane

Meine wenigen Treffen mit Herrn D.

veröffentlicht Februar 2025
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Herr D., 62 Jahre alt, war in einer Pflege WG untergebracht. Sowas kannte ich vorher nicht und war überrascht, wie gut das funktioniert. Nur 12 Patienten, zwar eng zusammen, aber dafür immer eine Pflegekraft in der Nähe. Sein Zimmer war neben der Küche, also im Zentrum des Geschehens.

Er wollte aber möglichst wenig Kontakt. Seine Krankheit, MS, war schon weit fortgeschritten und er wollte auch das Rauchen nicht aufgeben, trotz Lungenkrebs, der kürzlich festgestellt wurde. Er wusste, dass es zu spät war für eine Besserung. Die Luft im Zimmer war entsprechend. Das erste Treffen war nur ein kurzes Beschnuppern und er wollte, dass ich wiederkomme.

Das nächste Treffen war etwas länger; er erzählte von seinem Leben als Bauarbeiter, eines von fünf Kindern, zu Hause in Kreuzberg und Rudow, zwei Brüder waren schon an Krebs gestorben ein anderer hatte COPD. Er lebte allein in einer Gartenlaube, die er sich ausgebaut hatte, arbeitete viel und machte am liebsten mit seinem großen Motorrad Touren durch Deutschland.

Ein früher kräftiger und schwerer Mann. Als die Krankheit ausbrach, war er bald zu schwach für Arbeit und Motorrad. Jetzt konnte er nicht mehr aufstehen, seine Beine waren ganz dünn. Er lag im Bett und sah den ganzen Tag TV, lesen konnte er wegen der Augen nicht.

Ich habe im Netz nachgelesen, was MS im Endstadium bedeutet, und war etwas vorbereitet. Eigentlich traf alles auf Ihn zu.

Beim dritten Besuch war er zu müde, da bin ich nur kurz geblieben.

Der nächste Besuch, ein Montag zwei Tage später, war dann ganz anders. Die Pflegerin hat mich vorgewarnt. Es ging ihm nicht gut, er konnte nicht essen. Trinken wollte er, aber die Tasse hat er kaum hoch zum Mund bekommen und dann flog die aus seiner krampfenden Hand. Er sprach kaum verständlich, sagte das es in einer Ecke laut raschelt und er schwarze Schatten sieht. Dann sagte er ziemlich klar „is et dat jetzt..?“ Ich fragte, was er meint, „dat Sterben!“. Ich fragte, ob er Angst vor dem Tod hat. „Nein“ war die klare Antwort. Ich wollte da noch nachhaken, oder besser gesagt drauf eingehen, aber er fiel wieder in einen Dämmerzustand, konnte kaum die Augen aufhalten. Ich habe mich verabschiedet, noch einmal Faust an Faust, wie er es gut fand und wollte Donnerstag wieder kommen.

In der Nacht zu Mittwoch ist er dann gestorben. Eine Pflegerin war die Nacht über bei ihm.

Guter Kaffee

veröffentlicht Januar 2025
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Wir erhielten im ambulanten Hospizdienst eine Anfrage aus dem Helmut-Böttcher-Haus. Herr K., ein älterer Herr mit schwerer Krebserkrankung, der nach einem Sturz zu Hause ins Krankenhaus kam und von dort direkt ins Helmut-Böttcher-Haus ziehen musste. Er berichtete mir bei meinem ersten Besuch, dass er keine Angehörigen habe und nur noch zwei lebende Freunde, welche selbst nicht mehr mobil seien und mit ihrer Gesundheit zu kämpfen haben. Den gesetzlichen Betreuer habe er noch nie gesehen.

Er erzählte mir von seinem zu Hause und was er dort alles vermisst. Nach seinem Krankenhausaufenthalt nicht mehr nach Hause zu können, war für ihn ein ziemlicher Schlag. Er berichtete auch, dass der Kaffee in der Einrichtung praktisch ungenießbar sei und er zu Hause noch eine frische Packung Kaffee zu liegen hätte. Bei meinem nächsten Besuch brachte ich Herrn K. frischen Kaffee mit, den ich im Thermobecher meines Mannes aufbewahrte.

Er freute sich sehr darüber. An diesem Tag ging es Herrn K. nicht besonders gut und er konnte noch nicht aufstehen, wollte den Kaffee aber später in Ruhe trinken. Wir unterhielten uns eine Weile, doch er wurde schnell müde und schlief ein. Davor bat er mich, ihm beim nächsten Mal eine Flasche Selter und zwei Glückwunsch-karten mitzubringen. Einige Tage später traf ich wieder im Helmut-Böttcher-Haus ein, Selter und Karten im Gepäck. Herr K. war am Tag zuvor verstorben. Kein unerwarteter Tod und trotzdem überkam mich Traurigkeit. Wir mochten uns und haben die wenigen Besuche, die ich bei ihm machen konnte, sehr genossen. Als ich die Schwester fragte, ob sie meinen Kaffeebecher beim Zimmer räumen gesehen habe, verneinte sie. Sie erzählte aber, dass Herr K. sich sehr über den Kaffee gefreut habe und ihn richtig gut fand. Das ist ein schöner Trost.

Kaffee! Schon schön, wenn man sich überlegt, wie leicht es manchmal sein kann, Menschen am Lebensende noch etwas Gutes zu tun.

Die Literaturagent:innen

von Astrid Heinrichs-Otte (Ehrenamtliche seit 2002), veröffentlicht Dezember 2024
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Mal wieder ein Besuch auf der Palliativ Station.

Von der Patientin weiß ich nur, dass sie vor lauter Luftnot kaum sprechen kann und erst 50 Jahre alt ist. Wer erwartet mich? Eine Frau, die ganz klar um ihr Ende weiß – und eine große Leserin war. Und mich bittet, Ingeborg Bachmanns Gedichte vorzulesen. Oh! Risiko. Nichts kann ein Gedicht so verderben wie  „falsches“ Vorlesen. Aber es geht gut. Wir sind beide tief berührt von Trauer und Tod, die bei Bachmann mitschwingen.

Als ich Frau G. das nächste Mal besuche, kann sie etwas leichter atmen. Ich soll wieder vorlesen. Was? – Ach, aus meiner U-Bahn Lektüre. (Ich hatte erzählt, dass ich ohne Buch nicht aus dem Haus gehe.) – Es ist aber in Englisch? – Trotzdem. Wir stellen fest, dass wir beide diese Sprache und Literatur lieben. Sie notiert meinen Autor, empfiehlt ihrerseits eine schottische Schriftstellerin. „Was!!! „, rufe ich, „die kenne ich gut!“

Kurz bevor ich gehe, erfährt Frau G., dass sie ins Hospiz verlegt wird. „Endlich“ sagt sie, “ Der letzte Schritt.“ Ich verspreche ihr, beim Besuch dort ein Buch unserer Autorin mitzubringen  – aber dazu kommt es nicht mehr.

Die letzten Worte am Telefon, die sie kaum noch hauchen kann, sind: „Zumindest haben wir den Anfang einer wunderbaren Freundschaft erleben dürfen.“

Ja, das haben wir! Und ihre Buchempfehlung habe ich schon bestellt….