Am 8. April jährt sich die Ankunft der pflegebedürftigen Geflüchteten im Paritätischen Seniorenwohnen am Heckelberger Ring bereits zum zweiten Mal. Gemeinsam mit der Einrichtungsleitung Jana Kühn erinnern sich die Geflüchteten daran zurück.
2022 waren sie aus der Stadt Charkiw in der Ukraine geflüchtet, sieben hochbetagte Senior:innen am Ende ihrer Kraft, erschöpft von der Reise und dem Kriegsgeschehen in ihrer Heimat. In der Nacht kamen sie im Paritätischen Seniorenwohnen am Heckelberger Ring an. Unsere Pflegekräfte hatten sie erwartet und in der Kürze der Zeit alles bestmöglich vorbereitet. Es gab viele Gespräche mit den Mitarbeitenden, erinnert sich Jana Kühn. Die Berichte in den Nachrichten wurden plötzlich greifbar, die Auswirkungen unübersehbar.
Begleitet wurden die Senior:innen von zwei Angehörigen, die sich während der gesamten Flucht um die Pflegebedürftigen gekümmert hatten, außerdem gedolmetscht, gepflegt und getröstet. Sie alle fanden in der Einrichtung des PSW ein neues Zuhause. Im Interview mit der Einrichtungsleitung erinnern sich Igor I., Nadija S. und die begleitende Angehörige Inna S. zurück und ließen die letzten zwei Jahre Revue passieren.
Wenn Sie sich an die Tage vor Ihrer Ankunft und auch an die ersten Tage hier in Deutschland erinnern, was fühlen Sie?
Inna S. Deutschland fühlt sich sehr sicher an! Wir sind in einem sehr schlechten Zustand hergekommen, völlig schockiert, teilweise verwundet, unsicher – die Älteren wussten nicht in welchem Land sie waren, welcher Wochentag oder welche Uhrzeit ist. Wir wurden fürsorglich aufgenommen. Fast zwei Wochen waren wir unterwegs und als wir hier ankamen, war plötzlich alles ganz anders. Viele lagen nachts wach, erwarten Explosionen, hatten Alpträume. Ich sollte eigentlich an einem anderen Ort wohnen, doch die Mutter konnte ich nicht allein lassen, zu groß war die Verlustangst. Also blieb ich, unterstützte die Pflegekräfte in dem ich dolmetschte und Ansprechpartnerin für die mit mir geflüchteten Senior:innen war.
Igor I. Als ich ankam, kannte ich nur 4 Wörter: „Halt“, „Hände hoch“, „Ausweis“ und „schneller“. Ich konnte mich nicht allein bewegen und hatte Angst nach draußen zu gehen.
Ihre Mutter ist nach mehreren Schlaganfällen schwerstpflegebedürftig. Wie leben Sie heute?
Inna S. Meine Mutter und ich wohnen gemeinsam in der Einrichtung und teilen uns eine kleine Wohnung. Sie braucht Tag und Nacht Pflege. Oft ist sie nachts wach. Die umfangreiche Pflege macht es schwer, Deutschkurse zu besuchen, denn allein kann ich meine Mutter nur lassen, wenn ich zum Einkaufen gehe. Vertraute Personen z. B. unsere Nachbarin, den Hausmeister oder auch die Einrichtungsleitung sind kein Problem. Alles was fremd ist oder auch die Nachrichten beunruhigen sie, dann kommen die Albträume wieder.
Wie geht es Ihnen hier?
Nadija S. Ich bin glücklich, solange meine Tochter Inna in meiner Nähe ist. Ich hatte ein Haus mit vier Katzen und habe mich in der Ukraine um einige Straßenkatzen gekümmert. Das vermisse ich sehr, davon träume ich jede Nacht. Ich wünschte, ich könnte laufen und mich im Tierheim um Katzen kümmern. Das geht leider nicht, aber ich schaue mir Reportagen über Tiere an, manchmal auch auf Deutsch (lacht). Ich habe Deutsch unterrichtet und kann es noch etwas verstehen, mit dem Sprechen ist das schwieriger.
Igor I. Ich bin sehr dankbar und fühle mich wohl. Ich habe auch weiterhin Kontakt zu meinen Angehörigen und Freunden, auch zu den Ukrainer:innen, die wieder zurückgegangen sind. Das Leben hier und dort ist sehr unterschiedlich. In der Ukraine gibt es keine Barrierefreiheit, keine Unterstützung für Menschen mit Behinderung. Die Menschen auf der Straße behandeln Hilfsbedürftige in der Ukraine nicht gut. Autos halten an Straßen nicht für sie an, man hilft ihnen in Alltagssituationen nicht. Sie kommen nicht in Supermärkte und Wohnungen, weil es keine Rampen oder Fahrstühle gibt. Es gibt keine Krankentransporte oder Busse für Menschen mit Behinderung. Ich vermisse die Ukraine nicht, denn das, was dort schön war, gibt es nicht mehr. Charkiw war eine große, bunte Stadt, aber es ist nichts mehr wie zuvor. Ich habe es hier in Deutschland erstmals geschafft, selbstständig sein zu können. Ich habe zum ersten Mal einen Rollstuhl, habe gelernt und geübt, um ihn zu bedienen und kann jetzt selbst einkaufen gehen. Menschen bieten mir Hilfe an, ich komme überall hin und rein und die Leute sind freundlich. So gut wurde ich in der Ukraine auch vor dem Krieg nicht behandelt. Ich habe keine Angst mehr rauszugehen.
Inna S. und Nadija S. – was vermissen Sie am meisten?
Inna S. Uns fehlt meine Schwester und wir sind in regelmäßigen Kontakt mit unseren Freunden in der Ukraine, aber eine Heimkehr ist keine Option. Es ist zu unsicher, der Krieg ist nicht vorbei und meine Mutter kann dort nicht ausreichend gepflegt werden.
Nadija S. Ansonsten vermissen wir die Ukraine nicht sehr, hier gibt es viel mehr Möglichkeiten. Supermärkte, in denen es alles gibt. Wir können auch hier ukrainische Gerichte kochen, es fehlt in Deutschland an nichts.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Inna S. Ich möchte eine Ausbildung als Stylistin oder Friseuse machen, doch solange ich meine Mutter pflege, wird das nur ein Traum bleiben. Ich wünsche mir Urlaub, mal einen Monat „raus“ können, ich würde Deutschland aber nicht verlassen wollen. Meine Schwester plant, für einen Monat herzukommen. Das ist mein Lichtblick, „das reicht“. Unser einziger Wunsch ist es, hier bleiben zu können. Hier wieder zu Kräften zu kommen und ein normales Leben zu haben. Hier sind wir geschützt.
Darüber hinaus wünschen sich alle drei, da sind sie sich einig, für die Zukunft: Frieden für die Ukraine, vor allem damit Angehörige und Freunde, die dort leben, sicher sind und das Land wieder aufblühen kann.