Über den Dächern von Marzahn

Bernd Alcer ist Sozialarbeit in unserer Tagesstätte für Suchtkranke. Im Folgenden berichtet er von seiner Arbeit mit den Betroffenen:

Vor etwa drei Monaten habe ich Dirk im Krankenhaus besucht. Es war mal wieder knapp. Mit letzter Kraft hatte er sich zu uns in die Tagesstätte nach Alt Marzahn geschleppt. Wir zögerten nicht lange und riefen den Krankenwagen.

Diesmal war es nicht der Alkohol, der ihn in diese missliche Lage gebracht hat, sondern Schokolade. Ohne Alkohol lebt Dirk nun schon fast zwei Jahre. Stattdessen hat er aber bei anderen Dingen das Maß verloren. Jeden Morgen einen Liter Milch und abends mindestens eine Tafel Schokolade, das war für ihn auf die Dauer doch zu viel. Zum Glück haben sie ihn im Krankenhaus wieder etwas aufgepäppelt und er hat gelernt, mit den neuen Situationen umzugehen. Nun saß er endlich wieder bei uns am Tisch, die Freude war groß. Es war auch schön zu erleben, dass er seinen scheinbar unerschöpflichen Optimismus bei all den Problemen nicht verloren hatte.

Im letzten Jahr hatte er sich als Geburtstagsgeschenk eine Seilbahnfahrt auf den Kienberg gewünscht. Auf die Frage, was er sich dieses Jahr wünsche, entgegnete er „Eigentlich würde ich noch immer gerne Seilbahn fahren, aber das wird nicht einfach für mich und meine Höhenangst.“ Wir machten einen Termin für nächsten Dienstagnachmittag. Ich war gespannt. Am Dienstag bei der Morgenrunde, als die Arbeiten für den Tag eingeteilt wurden, sagte er: „Ich habe heute keine Zeit, ich muss mich auf die Seilbahnfahrt heute Nachmittag vorbereiten!“ Wir spazierten etwas auf dem Hof und tauschten Erfahrung aus. Ich hatte als Jugendlicher von unseren Bergurlauben manchmal Balancierübungen gemacht und er berichtete aus seiner Kindheit. „Ich stand im Fichtelgebirge schon mal ganz oben auf einer Skischanze, da wurde mir ganz anders und ich frage mich bis heute: wie kommt ein Mensch eigentlich dazu, von solch einer Schanze zu springen?“ Die Antwort überlegten wir uns gemeinsam. Vielleicht hat er als Kind mal zugeschaut und gedacht: das möchte ich auch! Der erste Sprung war nur ein Hüpfer von einem Schneehügel am Rodelberg, aus dem Schnee Hügel wurde irgendwann eine ganz kleine Übungsschanze und eines Tages war es so weit.

Zum Feierabend fragte ich: „Bleibt es eigentlich bei unserer Verabredung heute?“ „Na klar, wie besprochen, Treffpunkt an der Seilbahn! Aber ich finde gut, dass Sie noch mal fragen und keinen Druck machen.“ An der Seilbahn merkte man nicht, dass hier gerade jemand über sich hinauswuchs. Mit guter Stimmung stiegen wir ein, die ersten Meter war er noch etwas still, aber bald löste sich die Anspannung, und es war ein herrlicher Blick. „Wissen Sie, wie lange ich mir das schon gewünscht hab? Aber ich konnte mich einfach nicht dazu entschließen, und allein hätte ich es nicht gemacht!“

 

Titelfoto: Sozialarbeiter Bernd Alcer

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