Dr. Christine Roßberg (Ehrenmitglied)
Die Volkssolidarität gehört seit 1972 fast zu meinem Leben. Damals kam ich nach dem Medizinstudium in meine erste Praxis als Fachärztin für Allgemeinmedizin nach Berlin, ins Ambulatorium in der Balatonstraße in Friedrichsfelde. In meine Sprechstunde kamen viele ältere Patienten, die vor Kurzem in die neu erbauten Hochhäuser gezogen waren. Sie kannten niemanden und fanden untereinander keinen Kontakt, verließen kaum ihre Wohnungen. Mit Medikamenten konnte ich ihnen nicht helfen, ihre Krankheit war die Einsamkeit. Fortan kreisten meine Gedanken um dieses Problem. Ich brauchte Verbündete.
Ich war verheiratet mit Kurt Roßberg, der nach dem Ende des Krieges 1945 in Sachsen die Volkssolidarität mit gegründet hatte. Diese Gründung war damals für die Überlebenden des Krieges lebensnotwendig. Kurt war erster Geschäftsführer des Centralausschusses der Volkssolidarität. Ich saß also an der Quelle. Kurt machte mich bekannt mit Menschen, die in unserem Kiez in Ortsgruppen der Volkssolidarität arbeiteten. Ich wurde sofort Mitglied. Erfuhr von Angeboten für ältere Menschen. So zum Beispiel Rentnernachmittage in unserer Wohngebietsgaststätte mit Tanz, Kaffee und Kuchen. Zu diesen gut besuchten Veranstaltungen kamen die Menschen, um miteinander zu reden. Das half, der Einsamkeit vorzubeugen. Auch die Tatsache, dass man sich zum Ausgang gut anzog, hatte positive Auswirkungen. Ich gab meinen Patienten Kontakte zu Ortsgruppen der Volkssolidarität.
Nach ein paar Jahren wurde ich zur Vorsitzenden des Kreisverbandes der VS gewählt. Dadurch wurde ich von den engagiert arbeitenden Geschäftsführern unterstützt, die fest angestellt waren und den Laden schmissen. Meine letzte Geschäftsführerin war Anita Andres, viele unserer Berliner Mitglieder kennen sie aus der Arbeit im Landesverband. Ich nutzte die Rentnernachmittage der VS, um medizinische Vorträge zu halten. Anfangs musste man sich seine Kaffeetasse selbst mitbringen. Den Argusaugen der Kaffee-Verantwortlichen entging es nicht, wenn einer mit einer größeren Tasse sich mehr Kaffee erschleichen wollte. Köstlich, wenn ich jetzt daran denke!
An eine andere Begebenheit denke ich ungern. Wenn wir in die Geschäftsstelle am Bahnhof unterhalb der Lichtenberger Brücke zur Beratung kamen, froren wir im Winter entsetzlich. Wir mussten lange warten, bis wir andere Räume mit besserer Heizung bekamen. Dann kam die Wende, die DDR brach auseinander. Als Ärztin wurde ich nicht mehr gebraucht. Mein Mann starb nach langer Krankheit. Halt und eine gewisse Ablenkung von meinem Kummer gab mir die Arbeit für ältere Menschen, hauptamtlich oder ehrenamtlich, danach fragte keiner. Viele Ortsgruppen der VS lösten sich auf, auch in unserem Wohngebiet. Die Menschen wollten sich für nichts mehr engagieren.
Aber die Volkssolidarität kämpfte, nicht um das Überleben, sondern um das neue Leben in einer ungewohnten Gesellschaftsordnung. Ich war bei den Beratungen mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband dabei. In ihm waren und sind Träger zusammengefasst, die sich für soziale Probleme einsetzen. So etwas kannten wir nicht. Wir mussten umdenken und setzten Rat und Vorschläge des Paritätischen um. Andere Vereine, die in der BRD angesiedelt waren, klopften an die Türen unserer Häuser, um neue Mitglieder für sich zu werben. Die VS sei ja nun weg vom Fenster. In unserem Kiez war hauptsächlich die Arbeiterwohlfahrt aktiv.
Das Arbeitsamt vermittelte mir eine ABM-Stelle. Ich sollte eine Beratungsstelle für ältere Bürger aufbauen. Das kam wie bestellt. Ich konnte meine Arbeit in der VS Kreisstelle, jetzt Bezirksstelle Lichtenberg, fortsetzen. Die Beratungsstelle erhielt eine Ortsgruppe im Wohngebiet und so konnten auch die Chorproben weitergeführt werden. Drei Jahre lang habe ich die Beratungsstelle geleitet, dann konnte ich vorzeitig in Rente gehen. Ehrenamtlich war ich weiter Vorsitzende der Ortsgruppe 61 in Lichtenberg und leitete die Bezirksgeschäftsstelle der Volkssolidarität. 1997 entschied ich, nicht mehr zu kandidieren. Ich wollte mich um mich kümmern können, und 20 Jahre Ehrenamt wären ja auch genug, dachte ich!
Im Herbst 1998 stand die Wahl zum neuen Landesverband der Volkssolidarität an. Drei Tage vor dem Termin besuchte mich ein Mitarbeiter des Landesverbandes. Er bat mich um Hilfe: Ich solle mich zur Wahl des Landesvorsitzenden aufstellen lassen. Neue Wege mussten begangen, wirtschaftliche Aufgaben übernommen und eine GmbH gegründet werden. Dieses Neuland traute sich der amtierende Landesvorsitzende aufgrund seines Alters nicht mehr zu.
Mir wurde zugesichert, dass ich mit kompetenter Unterstützung rechnen könne. Vielleicht war es Kurt, der mir zuflüsterte, dass ich die Volkssolidarität, die ja fast sein Lebenswerk war, nicht enttäuschen und im Stich lassen dürfe. Ich sagte also zu. Aber nur für ein Jahr, bis ein geeigneter Vorstand gefunden wäre. Dann könne ich mich wieder meinem Ruhestand widmen. Es wurden zwölf Jahre! In meiner Funktion nahm ich auch an den Beratungen des Bundesvorstands teil, der begonnen hatte, neue Arbeitsgebiete zu erschließen.
Der Reiseklub der Volkssolidarität flog oder fuhr Abertausende unserer Mitglieder in die verschiedensten Länder. Wir schufen auch das Chortreffen der VS. Alljährlich trafen sich die Chöre im Ausland oder in Deutschland. Unser Chor nahm 22 Mal daran teil. Im Landesverband sorgte ich mich vor allem um unsere Basis. Da fühlte ich mich wohl und sicher. Die Arbeit im Wohngebiet, in der Nachbarschaftshilfe unterscheidet die VS von allen anderen Wohlfahrtsverbänden. Und das muss erhalten bleiben.
2010 spürte ich, all diese Ämter, das konnte ich nicht mehr schaffen. Ich übergab den Staffelstab an eine ausgezeichnete Nachfolgerin. In unserer Ortsgruppe 61 in Friedrichsfelde arbeite ich noch immer mit Freude in einem Dreier-Vorstand mit. Nachbarschaftshilfe brauche ich nach einem Unfall vor zwei Jahren nun selbst und bin für jegliche Unterstützung dankbar. Mein Kontakt zur Außenwelt ist gesichert.
Unsere Volkssolidarität wird 75, ich bin 86 Jahre alt und blicke mit Stolz und Freude auf fast 50 Jahre Zugehörigkeit, Arbeit und Zuhause in unserem Verband zurück. Er hat als einzige Massenorganisation der DDR überlebt, sich in der neuen Gesellschaft etabliert und sich einen Namen gemacht. Die VS hat sich sehr verändert, immer, um ihrer Aufgabe, der sozialen Hilfe für die Menschen, die sie brauchen, treu zu bleiben. Ich wünsche ihr viel Kraft, gute Ideen, begeisterte Mitstreiter und ein langes langes Leben.
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